Venus-Forschung

Das bedeutendste Sammlungsobjekt des gesamten Hauses und zugleich einer der berühmtesten archäologischen Funde der Welt ist die ca. 29.500 Jahre alte Venus von Willendorf. Sie wurde am 7. August 1908 bei Ausgrabungen unter der Leitung von Josef Szombathy, dem damaligen Kurator der Prähistorischen Sammlung des k. und k. Naturhistorischen Hofmuseums, und den mit der Durchführung der Ausgrabung betrauten Prähistorikern Hugo Obermaier und Josef Bayer im niederösterreichischen Willendorf in der Wachau gefunden. Die 11 cm hohe, mit Rötel gefärbte Frauenfigur wurde beim vorsichtigen Untersuchen eines Fundhorizontes vom Arbeiter Johann Veran entdeckt.
 

Seit der Auffindung der ersten Frauenfiguren der Altsteinzeit faszinieren diese nicht nur allgemein an Kunst interessierte Menschen, sondern auch die Fachwelt. Die Deutungsmöglichkeiten sind vielfältig, doch allein das Rohmaterial, die Gestaltung und die Fundsituation der über ganz Europa verbreiteten Figuren selbst sind nach wissenschaftlichen Kriterien erforschbar. Mitarbeiter*innen des Naturhistorischen Museums sind dabei, im Austausch mit Prähistoriker*innen anderer Institutionen, das Wissen über diese Figuren zu vermehren. Mit dem Versuch einer allumfassenden Deutung stößt man allerdings an die Grenzen des Erforschbaren.

 

Ansprechperson: Dr. Walpurga Antl-Weiser

 

 

Naturwissenschaftliche Analysen

Analysen in der Mitte der 1950er Jahre ergaben Spuren eines Überzuges aus Rötel auf der gesamten Oberfläche der Venus von Willendorf. Rötel scheint als Symbolfarbe mit den Venusstatuetten europaweit verbunden gewesen zu sein, auch wenn es zahlreiche Fundsituationen ohne Verwendung von Rötel gibt.

Der Herstellungsvorgang der Venus von Willendorf kann heute nicht mehr zur Gänze rekonstruiert werden, aber bei einer Analyse der Oberfläche im Jahr 2008 waren noch deutlich die Spuren der letzten Arbeitsschritte zu erkennen.
Alexander Binsteiner, Godfried Wessely und Antonin Přychistal verglichen im Jahr 2007 den Stein der Venus mit Oolith aus verschiedenen Vorkommen. Die besten Übereinstimmungen mit dem Rohmaterial unserer Venus zeigte ein Oolith aus der Gegend von Brünn. Im Jahr 2013 wurde die Venus von Willendorf im Micro CT Labor des anthropologischen Instituts der Universität Wien (Leitung Univ. Prof. Dr. Gerhard Weber) untersucht. Die dabei zum Vorschein gekommenen Gesteinsstrukturen lassen nun noch genauere Vergleiche des Steins mit anderen Rohmaterialproben zu.
 


 

Ikonologische Analysen

Figuren vom Typ der Venus von Willendorf sind von Frankreich bis Russland verbreitet. Stilistisch steht die Venus von Willendorf den osteuropäischen Venusfiguren am Nächsten. Die meisten russischen Frauenfiguren stellen reife Frauen mit großem Bauch und großen Brüsten dar. Viele von ihnen tragen Bänder auf ihrem Körper. Der Kopf ist nach vorne geneigt wie bei der Venus von Willendorf. Mit ihrer halbsitzenden Haltung entspricht die Venus von Willendorf den Figuren von Gagarino. Die Darstellung des Schmucks – die Venus von Willendorf trägt Armreife – hat sie mit den Figuren aus Kostenki gemeinsam. Ebenso wie bei der Venus von Lespugue liegen bei der Venus von Willendorf die Arme über der Brust.

Erhebliche Unterschiede gibt es zu den sibirischen Frauenplastiken, bei denen häufig Gesichter und Bekleidung dargestellt sind, und zu den stark hypertrophierten Körpern der italienischen Figuren aus den Balzi Rossi-Höhlen. Es gibt aber auch abstrahierte Darstellungen in denen sowohl weibliche als auch männliche Symbolik oder eine Verbindung von beiden zu erkennen ist. Modellierte Gesichter wie die Frauenköpfe aus Brassempouy in Frankreich und Dolní Věstonice in Mähren unterstreichen, dass die gesichtslosen Figuren eine ganz bestimmte Aussage repräsentieren. Trotz der Unterschiede in der Ausführung sind die Frauendarstellungen des mittleren Jungpaläolithikums kein willkürliches Sammelsurium. Es gibt über ganz Europa verbreitete Phänomene, aber auch regionale Varianten.   
 



Deutung der Venus

Für die Menschen vor ca. 29.500 Jahren hatten die Figuren eine ganz bestimmte Bedeutung. Wie die weite Verbreitung nahelegt, waren sie Zeichen, die überregional verstanden wurden. „Venus“ werden diese Frauendarstellungen von der Forschung heute noch genannt, weil 1864 die erste Figur als „Venus impudique“ (=unkeusche Venus) bezeichnet worden war. Durch die genaue Darstellung der Geschlechtsmerkmale brachte man sie bald mit Fruchtbarkeit in Zusammenhang.

Hinter den Venusfiguren stand offensichtlich eine ganz bestimmte Vorstellung, die für die Menschen der Altsteinzeit durch das Bildnis einer Frau ausgedrückt wurde. Der Schöpfer bzw. die Schöpferin der Venus von Willendorf stellte keine fettleibige Frau um ihrer selbst willen dar, sondern hat das, was er oder sie darstellen wollte, als fettleibige Frau geformt. Welche Gedanken, Wünsche und Vorstellungen einst mit den Venusstatuetten verbunden waren, wissen wir nicht. Die Häufigkeit der Darstellung sagt nichts über die Rolle der Frau in der Altsteinzeit, solange wir die genaue Bedeutung der Figuren nicht kennen.

 

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Publikationen
Zur Venus veröffentlichte Wilhelm Angeli im Jahr 1989 Teile des Archivmaterials. 2008 anlässlich des 100-Jahr-Jubiläums der Auffindung wurden erstmals sämtliche Funddokumente, Rohmaterialanalysen und eine Detailanalyse der Arbeitsspuren vorgelegt.

W. Angeli 1989: Die Venus von Willendorf. Wien, 1989
W. Antl-Weiser 2008: Die Frau von W. Die Venus von Willendorf, ihre Zeit und die Geschichte(n) um ihre Auffindung. Wien.

Weiterführende Literatur
F. Felgenhauer 1956-59: Willendorf i. d. Wachau. Monographie der Fundstellen I-VII, Mitt. d. Prähist. Komm. VIII/IX, 1956-59.
M. Gvozdover, 1995: Art of the Mammoth Hunters. The finds from Avdeevo, Oxbow Monograph 49, Oxford 1995

 




  
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